Die erzkonservative bürgerliche Seele kochte. Die Folge: heftige Kritik in den Medien, vor allem Demonstrationen auf der Straße und im Theater selbst, in denen sich der Zorn so mancher konservativer BürgerInnen lautstark artikulierte. Der Vorwurf der Pornographie war noch ein nahezu geringfügiger, „Schweineliterat“ „Saustall“, „Bordellprologe“ lauteten die deftigeren verbalen Kritiken. Und weil es offensichtlich dem damaligen Zeitgeist so mancher sich selbst als ehrenwerte Bürger bezeichnender Schreier entsprach, wurde das Stück gleich mit antisemitischen Tiraden verbunden. In deren Augen sei vom Juden Schnitzler ohnehin nichts anderes als Schweinekram zu erwarten gewesen, ein „Schmutzstück aus der Feder eines jüdischen Autors“, wie es der christlich-soziale Abgeordnete und spätere Bundeskanzler, der „Eiserne Prälat“ Ignaz Seipel, formulierte. Es folgten Schreiduelle im Parlament. Wobei man damals hinter der Hand flüsterte, es zumindest ahnte, und heute definitiv weiß, dass gerade die katholische Kirche nicht frei von groben sexuellen Verfehlung gewesen ist.
Der Gesellschaft ins Stammbuch geschrieben
Dabei brachte der Dramatiker Arthur Schnitzler nur zu Papier, was im Wien des Fin de siècle vor sich ging und brach damit ein Tabu – eine Beschreibung fürs Stammbuch, ein Spiegel der scheinheiligen Gesellschaft am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Das Verlangen des Individuums nach Liebe, nach Macht, nach Verführung und die daraus oftmals resultierende Enttäuschung. Im Stück klafft nicht zuletzt eine unüberbrückbare Lücke zwischen Ehe, Sexualität und den Geschlechtern. In zehn Szenen spannt Schnitzler einen Bogen vom so genannten Proletariat über das Bürgertum bis hin zur Aristokratie – ein „bunter“ Reigen also, in dem sich letztlich gewissermaßen die unterschiedlichsten Charaktere der gesellschaftlichen Klassen begegnen und ihrer Lust – in den Aufführungen gab es keine Sexszenen, keinen Koitus – auf verbalen Weg nahezu oftmals zweideutig eindeutig freien Lauf lassen. Weitere Theater-Aufführungen in Wien wurden wegen der zu erwartenden Tumulte – wohl aber mehr wegen der damaligen Ansicht der Bürgerlichen über Moral – schließlich polizeibehördlich verboten. Angesichts der Ereignisse untersagte der Autor selbst ein Aufführungsverbot, das 1982 (mit dem Tod von Schnitzlers Sohn und Erben Heinrich) endete.
Der Film entdeckt den Reigen
Doch wie der Einfallsreichtum so spielt, fanden in der „Interregnumsepoche“ gewiefte Denker und Regisseure in Form von Film- und Hörspielproduktionen Umgehungsmöglichkeiten. Eine der bekanntesten Reigen-Produktionen erblickte 1973 das Licht der Kinowelt. Unter der Regie von – man staune – Otto Schenk spielten heimische Filmgrößen wie Helmut Berger, Erika Pluhar, Senta Berger, Helmut Lohner, Peter Weck etc. die tragenden Rollen. Und die damals allerorts geschätzte und bei ihren Fans als „liebes Mädel“ titulierte Getraud Jesserer die Dirne, mit deren Auftritt in der ersten und in der letzten Szene Schnitzler seinen Reigen schließt.
Dauergast Scheinheiligkeit
Die sexuelle Revolution der 60er und 70Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfrachtete die Lust, die körperliche Liebe nicht mehr – wie die katholische Kirche und erzkonservative Kreise noch vor gar nicht allzu langer Zeit – in eine Schmuddelecke. Lust, Begehren und gelebte Sexualität werden nicht zuletzt durch wissenschaftliche Erkenntnisse determiniert als wesentlicher Teil menschlicher Empfindungen in aller Öffentlichkeit besprochen und nicht mehr allein als Ereignisse ausschließlich für und unter der Bettdecke definiert.
Was natürlich nicht bedeutet, dass dabei nicht ebenfalls Scheinheiligkeit, Heuchelei und Bigotterie bei so manchen Zeitgenossen Empfindung und damit Ausdruck ihres (verbalen) Handelns sind. Gerade dabei schließt sich der Kreis zum Bühnenstück des bedeutenden Dramatikers Schnitzler (der nebenbei bemerkt skeptisch blieb, was die Möglichkeit einer gelungenen Aufführung anbelangt) und dem damaligen Skandal. Die Spießbürger gibt es immer noch, die Wasser predigen, Moralapostel spielen und – wenn niemand hinsieht – Wein trinken und damit vom gar so köstlichen Nektar Liebesakt bei sich jeder bietenden, angeblich unmoralischen Gelegenheit naschen.
Sigmund Freud, im Übrigen, war mit der Arbeit Schitzlers (so wie Schnitzler mit den Entwicklungen der Psychoanalyse und Sexualtheorie seiner Zeit) bestens vertraut. In einem Brief von 1906 nannte ihn der Vater der Psychoanalyse seinen „Doppelgänger“. Freud sah eine „weitreichende Übereinstimmung“ zwischen „Ihnen und meinen Auffassungen mancher psychologischer und erotischer Probleme“, wie es heißt.
DVD
Der Reigen
mit Otto Schenk, Senta Berger, Gertraud Jesserer, Peter Weck, Erika Pluhar und Michael Heltau
Lieferbar bei Hoanzl: Preis 7,99 € (inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten)
https://www.hoanzl.at/der-reigen.html
Titelbild: Josef Engelhart (Künstler), Blatt eines Skizzenbuchs: Wäschermädel-Ball, 1887–1889, Sammlung Wien Museum, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/10112/)
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